unterwegs in den bergen beschäftigt mich zunehmend ein dilemma
Die schönsten Naturräume in der Schweiz sind Naturschutzgebiete.
Das ist wunderbar, eine verdiente Auszeichnung und ein Schutz, der sehr wertvoll und wichtig ist. Jedes Naturschutzgebiet freut mich, denn es zeugt von Wertschätzung gegenüber ursprünglicher, wilder Natur. Doch dann treffe ich auf Herden von Kühen, Schafen, Ziegen. Sömmerungstiere, die im Namen der “Landschaftspflege” Feuchtgebiete zertrampeln und zarte Bergflora (über-)düngen. Der Heli fliegt seine Flüge, um SAC Hütten zu versorgen, um Menschen die Welt von oben zu zeigen, und ab und zu mal um eineN zu retten. Die Kraftwerksbetreiber dürfen grosse Teile der Gewässer abzweigen, stauen, unterirdisch umleiten – zur Produktion der angeblich sauberen Wasserkraft. Und auch das Militär darf…
Aber bivakieren darf ich hier nicht.

Wo sind wir angekommen als menschliche Gesellschaft? Dürfen wir noch die Natur geniessen, schätzen, würdigen – im darin unterwegs sein auf die natürlichste ursprünglichste Weise?
Wie sollen wir uns wieder zur Natur hin entwickeln und sie schätzen und schützen lernen, wenn wir uns nicht mehr als Teil von ihr – im ursprünglichen, unverfälschten und ungefilterten Sinn – erfahren dürfen?


Ganz klar – der Schutz wichtig. Der Schutz der Natur vor dem Menschen, ihrem grössten Schädling.
Und dies in den letzten Jahren zunehmend. Je mehr Menschen es in die (Berg-)Natur zieht, um so mehr wird diese bedrängt und belastet mit Abfall, Lärm, Achtlosigkeit. Papiertaschentüchern hinter Steinen am beliebten Rastorten. Das meine ich nicht.
Warum braucht es Regeln, Verbote, Naturschutzgebiete? Weil wir uns tolpatschig und unaufmerksam in der Natur aufhalten. Solange wir uns nicht innerlich als Teil der Natur verbunden fühlen, solange werden wir Regeln brauchen, als Rahmen für den nötigen Respekt und unsere Zurückhaltung gegenüber der Natur.

Ich meine deshalb, wir müssen tiefer ansetzen: Beim Bewusstsein. Achtung und Selbstverantwortung lernen und pflegen: Wenn ich selber für meine Handlungen voll und ganz Verantwortung übernehme, mich informiere, mich achtsam bewege. Mir überlege: Wie verhalte ich mich möglichst behutsam, damit mein Impact, mein Fussabdruck in der Natur möglichst klein zurückbleibt?
Es gibt viele Möglichkeiten dies zu lernen. Und sicher machen wir Fehler, begehen Missverständnisse. Aber wir müssen da beginnen: Auf dem Weg hin zu reifen, verbundenen Erwachsenen. Denn wir sehnen uns ja zur Natur hin, als Teil – als im Bewusstsein weitest-entwickelte Spezies – dieses Ökosystems Planet Erde.

Die Natur lieben, sie geniessen, und ihr dennoch nicht schaden. Jeder Fusstritt ist ein Impact. Wo ist die Grenze? Wieviel mag es ertragen?
Störe ich die Murmeltiere in ihrem Revier wenn ich hier übernachte? Störe ich die Gämsen, die abends zum Grasen in tiefere Lagen hinuntersteigen? Die Blümchen, die unter meinem Tritt brechen. Wieviel zerstöre ich, wenn ich das Wasser des Bergbachs aufwirble beim Abendbad; die Pastapfanne darin abwasche? Wie lange dauert es, bis der Rest Bio-Zahnpasta im Wurzelwerk der Alpenrose abgebaut wird? Wie lange dauert es, bis meine Fäkalien – gut begraben in einer Geröllhalde – zersetzt und zu organischem Material geworden sind?
(Wusstest Du z.B., dass ein Papiertaschentuch 20x länger braucht zum verwesen als WC-Papier?)

Wo sind die Grenzen?
Die grossen Eingriffe: Ein Speichersee, die tote Natur, da wo der Seespiegel sinkt – wie bei vielen Stauseen diesen Sommer. Das wenige Wasser, das nach der Abzweigung für die profitreiche Wasserkraftproduktion noch übrigbleibt für das Ökosystem, das die Gewässer eigentlich speisen und nähren würden.
Die intensive Beweidung der Alpen: Wo wir früher durch zarte farbenfrohe Bergmagerwiesen gingen, bedecken heute eintönige Löwenzahn-Fettwiesen die Alpenhänge. Die Sömmerung der Tiere gilt als Alp-/Kulturlandschaftspflege und ist Teil unseres Systems der Milch-/Fleischwirtschaft. Doch stimmt das (Aus-)mass? Wo ist das Gleichgewicht, die echte Nachhaltigkeit in diesem System?

Wir Menschen, die Touristen: Seilbahnen, e-Bikes, Erschliessungsstrassen. Es braucht heute nicht mehr viel eigenes körperliches Dazutun, um bis in entlegene Bergräume hochzugelangen. Jeder/jedem zugänglich, in immer entlegenere Räume, in immer grösseren Massen. Wenn hier Respekt und Achtsamkeit fehlen, wird diese Entwicklung zur Heuschreckenplage für die Bergwelt.
Und Achtung, jetzt kommt etwas das nicht allen gefallen wird: Die Berghütten – mit ihren 3-Gang Menus mit Bier und Wein – braucht es diesen Luxus in jedem fragilen stillen Bergraum? Die lärmigen Heliflüge zur Versorgung, der Generatorenlärm abends inmitten abgeschiedenster Berghöhen. Wohin mit dem Abfall, den Fäkalien, dem Abwasser aus Küche und Waschraum?


Verbringe ich dagegen eine Nacht alleine, draussen in der Natur. Koste ich bewusst die Stille, die vielseitige Schönheit, das Plätschern eines freifliessenden Baches, ein Bad im Bergsee, die rosa-rot-violett gefärbten Felsen nach Sonnenuntergang, die zarten Farbtöne am Horizont in der Morgendämmerung. Wenn die Sonne langsam am gegenüberliegenden Grat aufgeht, und hinunter zu meinem Nachtlager kriecht bis sie mich mit ihrem ersten Strahl von Wärme erreicht – und ein neuer, glänzender Tag beginnt…
Dann fühle ich mich genährt, tanke auf, erinnere mich, fühle mich eins. Und daraus erwächst auf ganz natürliche Weise meine Fürsorge. Meine Wertschätzung, mein Respekt.
Und zugleich fühle ich mich im Innersten angekommen bei mir selber.


Homecoming in Nature – purer Natur – ist zugleich homecoming zu mir – Rückverbindung zu mir selber.
